Praxis für Eheberatung und Psychotherapie - Marry & Schäfer

Veröffentlichungen

Über Schuld und Schuldgefühl in der Beratung

Vortrag E. Marry 

Eine Gegenüberstellung der Psychoanalyse und Moraltheologie

 

1.   Freud: Psychotherapie als amoralischer Raum

 Die therapeutische Arbeit stellt uns ständig vor Situationen, in denen wir mit Fragen der Schuld konfrontiert sind. Dies ist nicht weiter verwunderlich, denn das Erleben von Schuld- und Schamgefühl ist von zentraler Bedeutung für die menschliche Existenz in Gruppen und Gesellschaften, gleichgültig wie unterschiedlich ihre Inhalte im Verlauf der Menschheitsgeschichte oder der Eigenheiten ihrer kulturellen Ausprägung sein mögen.
 Wir erleben ein undefinierbares Unbehagen, nicht nur in Zusammen- hang mit schweren Verfehlungen der Klienten, wenn z.B. eine Mutter beichtet, dass sie ihr Kind geschlagen hat oder ein Vater den Missbrauch seiner Tochter zugibt, sondern auch bei banalen Eingeständnissen von Ehebruch, sexueller Perversion oder Eigentumsdelikten.
  Dabei geht es weniger um den Umgang mit übertriebenen Schuldgefühle der betroffenen Klienten, deren Ursachen für uns nicht sofort nachvollziehbar sind, als vielmehr um real begründete Schuldgefühle, eigentlich Gewissensbisse aufgrund von Handlungen, die wir selbst auch als schuldhaft bezeichnen würden. Aber auch jene, scheinbar jeder Grundlage entbehrenden Schuldgefühle, die wir neurotisch nennen, verbergen hinter sich eine vielleicht nur vom Klienten selbst begründbare Schuld, deren Quelle wir noch in der Beratung zu entdecken haben werden und die wir nicht leichtfertig beschwichtigen sollten, wenn sie sich doch so massiv und hartnäckig manifestieren.
     So gesehen können wir ein neurotisches Schuldgefühl definieren als das Erleben von Schuld, nach erfolgter Abwehr der eigentlichen Ursache und Verschiebung eines Gewissenskonflikts auf Ersatzschauplätze, während es durchaus auch eine gesunde Form von Schuldgefühl gibt, die auf tatsächliche Verfehlungen zurück zu führen ist. Hierzu meinte Freud allerdings:„“Wenn man ein Schuldgefühl hat, nachdem und weil man etwas verbrochen hat, so sollte man dies Gefühl eher Reue nennen.[1]
    Ohne uns aber über die ethischen Kategorien bewusst zu sein, die uns selbst leiten und unser Urteil beeinflussen, werden wir es schwer haben, diese analytische Arbeit konsequent und sinnvoll zu leisten. Daher ist die Beschäftigung mit der Schuldfrage und der sie hervorbringenden Moral, als ureigenstes Thema, eine professionelle Notwendigkeit, die wie ich finde vernachlässigt wird.
  Eine professionelle Haltung wird oft gleichgesetzt mit einer Permissivität, die das eigene moralische Empfinden übergeht und den Berater auf die Dauer überfordert, da er entstehende Konflikte zwischen seinem eigenen Wertesystem und jener aufgesetzten Zulässigkeit, im Rahmen der Abstinenzregel, verdrängt oder verharmlost.
    Wir wissen genau, dass wir im Grunde niemandem mehr Freiheit und moralischen Freiraum zugestehen werden, als wir uns selbst zugestehen. Dass es eine Frage der eigenen Überich – Struktur ist, die uns befähigt, mit dem Überich unseres Gegenübers in der psychologischen Beratung oder Therapie angemessen umzugehen, wissen wir auch. Aber kennen wir uns wirklich so gut, und haben wir uns denn ausreichend mit den inneren Determinanten unseres Rechtsempfindens auseinander gesetzt, um uns mit den uns dargebotenen Gewissenskonflikten anderer Menschen in heilender, heilsamer Weise zu befassen? Oder machen wir uns und den Klienten etwas vor, wenn wir uns bei ihren Lebensbeichten so unbeeindruckt geben, als stünden wir über alle Moral?
    Die Psychoanalyse, die Psychotherapie muss ein Stück Amoralität vertreten, meinte Freud, weil und insoweit die Kultur, also die Gesamtheit der geistig bindenden Regeln und Überzeugungen eines Volkes, im Widerspruch zu dem Glück und der seelischen Ganzheit des Individuums steht.[2]


   Woher aber bezieht die Psychoanalyse diese Berechtigung zu sagen, jede Heilung einer Neurose bestehe in der „Relativierung bestimmter erhabener Sätze und Prinzipien der Religion und der Moral“? [3]
    Die Psychoanalyse geht von der Prämisse aus, dass kein Mensch ein ursprüngliches, sozusagen natürliches Unterscheidungsvermögen für Gut und Böse besitzt. Denn das Böse ist oft gar „nicht das dem Ich Schädliche, oder Gefährliche, im Gegenteil es ist auch etwas, was ihm erwünscht ist, ihm Vergnügen bereitet.“ [4]
   Daher müsse der Mensch durch Sozialisierung lernen, das anfänglich herrschende Lustprinzip, die unumschränkte Triebhaftigkeit welche die Gemeinschaft bedroht, durch bestimmte, zunächst gesunde Abwehrmaßnahmen unter Kontrolle des Ichs zu bringen, um in der Gesellschaft bestehen zu können und angemessene Befriedigung zu erfahren. Da wo dies nicht gelingt, wo entweder die Abwehrmechanismen versagen oder übermäßig streng entwickelt sind, entsteht der neurotische Konflikt. Dieser ist zunächst ein interpersoneller, etwa zwischen Kind, Eltern und umgebende Gruppe, später aber verinnerlicht als intrapsychische Spannung zwischen Es und Überich.
    „“Wir kennen also zwei Ursprünge des Schuldgefühls, den aus der Angst vor der Autorität und den späteren aus der Angst vor dem Über-Ich. Das erstere zwingt dazu, auf Triebbefriedigung zu verzichten, das andere drängt, da man den Fortbestand der verbotenen Wünsche vor dem Über-Ich nicht verbergen kann, außerdem zur Bestrafung...“ [5]
  Schuldgefühle halten also an, mindestens so lange die Versuchungssituation anhält. Die Versagung aus Angst vor der Autorität gelingt, nach der Verinnerlichung dieser Autorität im Überich, dagegen nicht mehr. Solange der Wunsch da ist, ist auch das Schuldgefühl da.
    Wir haben es in der Beratung und Therapie demnach mit lang anhaltenden, chronisch gewordenen Schuldkomplexen zu tun, deren Bewusstmachung Ziel jeder therapeutischen Intervention ist.
    Um dies aber zu vollbringen muss dem Patienten zunächst ein moralfreier Raum zur Verfügung gestellt werden, in dem er frei assoziieren kann, also seine Wahrnehmung ungestört auf die verdrängten Schuldverstrickungen lenken kann. Das macht es erforderlich, dass der professionelle Helfer in der Lage sein muss, im Idealfall völlig frei von Bewertung des ihm vorgetragenen Materials zuzuhören und eventuelle Verstörungen seines eigenen moralischen Empfindens auszuschalten. Es bedeutet auch, den Klienten durch Phasen des Ausagierens libidinöser Phantasien und des Ausprobierens neuer Verhaltensweisen, auch fremd- und autoaggressiver Art, mit Verständnis zu begleiten, bis er in die Lage versetzt wird, seine Gedanken, Handlungen und Gefühle wieder mit neuen, inneren Wertvorstellungen in Einklang zu bringen. Eventuell wird das Ergebnis einer Psychotherapie sogar für immer nicht im Einklang mit der gängigen, kollektiven Moral übereinstimmen, wie im Falle der Homosexualität oder partiell ausgelebter, unschädlicher Perversionen.
    Diese Amoralität der Psychotherapie, und sei sie zeitlich oder inhaltlich noch so begrenzt, bedarf, um ohne Schwächung des Moralempfindens des Therapeuten durchgehalten zu werden, einer ethischen Rechtfertigung, die jenseits individueller Konstrukte, von einem System des Absoluten abgeleitet werden muss, will man nicht als Therapeut allmählich und unmerklich die ethische Orientierung verlieren, die einen selber trägt. Meiner Meinung nach wird die Gefahr unterschätzt, dass professionelle Helfer, je länger sie diese Spaltung zwischen beruflichem und persönlichem Moralempfinden aufrecht erhalten, in eigene Gewissenskonflikte geraten und Schuld auf sich laden durch eine gewisse Art von Komplizenschaft mit ihren Klienten.  
    Danach müssen wir aber verstehen lernen, was den Klienten oder Patienten dazu bewegt, mit größter Entschiedenheit gegen die Gesetze der geltenden Moral zu verstoßen.
    „Psychotherapeutisch ist diese „Verunendlichung des Subjektiven“  (E. Drewermann  benutzt diesen  Begriff um die Gleichstellung subjektiver mit allgemeiner Moral zu beschreiben), „die sich immer wieder beobachten lässt, vor allem an der Heftigkeit zu erkennen, mit der ein Mensch gerade unter psychotherapeutischer Anleitung beginnt, sich auf sich selber zu besinnen, nur auf die Gesetze seines eigenen Inneren zu horchen und sich dabei alles äußere moralisierende Dreinreden zu verbitten, stets unter der Devise: ich will kein Heiliger (mehr) werden, aber ich will jetzt endlich selber leben.“ [6]
    Nicht selten bleibt sowohl der Patient, als auch ein durch ihn seine eigenen libidinösen Phantasien auslebender Therapeut, in der Amoralität gefangen. Dieser klammert die Frage nach der Moralität des Patienten aus, rechtfertigt dies durch die Abstinenzregel und der Notwendigkeit eines moralfreien Umgangs mit Berichten seines Patienten, als wäre der Schutz der Triebhaftigkeit ein vitales Endziel der Psychotherapie.
    Die Folgen des anhaltenden Ausagierens sind nicht selten zerstörte soziale Strukturen des Patienten (Scheidung, Verlust des Arbeitsplatzes, Isolation), aber auch Abbrüche der Therapie in den Situationen, wo seine  Frustrationstoleranz gefordert wird und ein Verzicht auf Triebbefriedigung angebracht wäre.  Die Freude über die erreichte Befreiung eines Leidenden vom Druck repressiver Moral lässt  uns die rekonstruktive Arbeit am Überich, also das Ersetzen moralischer Freiräume durch andere, Gesellschaft und Gemeinschaft fördernde Inhalte, schlichtweg vergessen. Da dies ausbleibt, verhält sich der therapierte Patient in seinen verschiedenen Beziehungen nicht selten ausbeuterisch, egozentrisch und maßlos.
    Hier gilt es am Ende zu erwägen, welches Maß an Individuation noch Bezogenheit zulässt und: wie können wir eine Moraldefinition finden, die weder repressiv und hemmend, noch so brüchig, relativ oder biegsam wirkt, dass sie eigentlich unbrauchbar und überflüssig ist.

 

    2.    Drewermann: Das Kreuz mit der Moral

   Wir sind alle keine Engel... Und doch will uns die kirchliche Moral oftmals genau dies einreden, dass es nämlich möglich sei, durch Willensentscheidungen jederzeit das Gute zu tun und das Böse zu meiden, und dass ein tugendhaftes Versagen nur durch Strenge Ahndung vermieden werden kann. Die Utopie einer Ethik, die individuell realisierbar und ganzheitlich verallgemeinert werden kann, mag für das Entstehen und Fortbestehen einer Gesellschaft lebenswichtig sein, aber gerade die Beratungspraxis konfrontiert uns oft mit dem Ausmaß an Schaden, den die zwanghaften Auswüchse dieser repressiven Moral beim Menschen anrichten.

Denn in seinem Bestreben, einerseits gut zu sein und gleichzeitig der Befriedigung seiner Triebhaftigkeit gerecht zu werden, verfällt das Individuum immer wieder und zwangsläufig in Interessenwidersprüche zwischen Eigennutz und Allgemeinwohl, Lustbefriedigung und Triebverzicht und kann diese Spannung manchmal nur durch destruktive Handlungen abführen.
    Wie schon der Apostel Paulus klagte: „Nicht das Gute, was ich will tue ich, sondern das Böse, das ich nicht will. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, dann bin nicht mehr ich es, der so handelt, sondern die in mir wohnende Sünde. Ich stoße also auf das Gesetz, dass in mir das Böse vorhanden ist, obwohl ich das gute tun will“.[7]
  Damit gab er seiner eigenen Erfahrung Ausdruck, es gäbe eine Art „Gegenwillen“ zum guten Willen, den selbst ein überzeugter Apostel Christi nicht unter Kontrolle bekam. Zeitlebens kämpfte Paulus, der für die Entstehung einer kirchlichen Moral von größter Bedeutung war und dessen Apostelbriefe von Generationen kirchlicher Dogmatiker gerne als Legitimation für strenge sittliche Forderungen zitiert werden, mit seinem inneren Saulus und mit dessen Projektion, indem er oftmals rigorose Forderungen nach Ausschluss und Ächtung von Sündern in seinen Gemeinden stellte (Heute würde man dies Exkommunikation nennen).
  Ich möchte anhand einiger Zitate aus seinen Gemeindebriefen belegen, welch Quelle für repressiven klerikalen Moralismus sie waren, und immer noch sind:


   „Das sollst du wissen: In den letzten Tagen werden schwere Zeiten anbrechen. Die Menschen werden selbstsüchtig sein, habgierig, prahlerisch, überheblich, bösartig, ungehorsam gegen die Eltern, undankbar, ohne Ehrfurcht, lieblos, unversöhnlich, verleumderisch, unbeherrscht, rücksichtslos, roh, heimtückisch, verwegen, hochmütig, mehr dem Vergnügen, als Gott zugewandt.“ [8]


   Und im ersten Korintherbrief 6,18-20 heißt es: „Hütet euch vor der Unzucht! Jede andere Sünde, die der Mensch tut, bleibt außerhalb des Leibes. Wer aber Unzucht treibt, versündigt sich gegen den eigenen Leib. Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt und den ihr von Gott habt? Ihr gehört nicht euch selbst; denn um einen teuren Preis seid ihr erkauft worden, Verherrlicht also Gott in eurem Leib!“


    Hier wird nicht nur die moralischen Tugenden auf die sexuelle Zucht reduziert, sondern diese Kasteiung fordert regelrecht dazu auf, das lustvolle Körpergefühl das ja die Basis ist für ein positives Selbstgefühl schlechthin- auf eine unmögliche Art zu reglementieren, die letztendlich und zwangsläufig zur psychischen Abspaltung führen muss, sobald ein Mensch sündigt. Die Grenzen der Körper- und Selbsterfahrung sind hier so eng gesetzt, dass sie unweigerlich überschritten werden müssen, weil sie keine Toleranz für Triebbefriedigung, geschweige denn für Irrungen, zulassen.
    Wenn andere Theologen, wie Drewermann, dagegen die Meinung vertreten, es sei vorstellbar, dass ein Mensch „auf dem Wege zu sich selbst Gesetzen folgen muss und darf, die in ihm selber liegen und unter Umständen sich nicht mit den Forderungen des Sittlich - Allgemeinen decken, weil er in einem Bereich steht, in dem die Ethik ihre primäre Gültigkeit verliert“, so werden sie sofort seitens der dogmatischen Theologie zur Ordnung gerufen. Diese wird schnell daran erinnern, dass Gott, als Urheber des Guten und Sittlichen, dem Menschen unmöglich das Böse gestatten könne, wie es sich in der Verletzung der moralischen Verpflichtung ausdrücke. Zwar sei Gott barmherzig und immer bereit, einem reuigen Sünder zu vergeben, dies heiße aber nicht, dass das Sittliche aufgehoben sei, sondern setze eben genau diese Kategorie der Schuld voraus, die man vergeben soll. Vergebung heiße aber nicht, die Sünde sei erlaubt, sonst sei der Begriff der Schuld überflüssig.
    Dies sei ja unstrittig, meint Drewermann dazu, aber es bestehe die Gefahr, „dass die dogmatische Moraltheologie gerade diesen Sündenfall verursache, indem sie Gott und die Sittlichkeit gleichsetze und die Religion dadurch auf bloße Sittlichkeit und Keuschheit“ reduziere. Damit zwinge sie den Sünder, sich als Verstoßener, schamvoll von Gott zu entfernen, wie es Adam tat, als Gott nach ihm rief. Adam versuchte, sich zu verstecken und zu verstellen, als wenn Gott irregeführt werden könnte. Er benutzte Ausreden, also Abwehrmechanismen, anstatt auf das Verständnis und die Treue Gottes zu vertrauen. Das sei der eigentlich böse Aspekt bei der Entstehung der Erbsünde: Sie antizipiert den Treuebruch in der Beziehung zu Gott durch die Vermeidung seiner Nähe und Liebe, nicht durch die Übertretung eines Gebots.
    Die Forderungen und Mahnungen der Paulinischen Briefe und seiner Nachfolger, wie sie hier nur auszugsweise angedeutet sind, durchzogen die christlich-abendländische Kultur und beeinflussen heute noch die kindliche Sozialisation maßgebend. Somit sind sie beteiligt an der Entfremdung des Menschen zu seinem eigenen Körper. Sie beeinflussen sein Selbstwertgefühl, auch dann, wenn er zu ihnen in Opposition lebt. Sie haben zur Konsequenz, dass - besonders für die um moralisches Handeln bemühten Christen - die individuelle Existenzberechtigung von der Sittlichkeit abhängt.
  Andererseits hat gerade auch Paulus in obigen Aussagen die Ohnmacht und Gefangenschaft des menschlichen "freien" Willens recht gut beschrieben. Letztendlich gibt er darin zu, wie schwach nicht nur das Fleisch ist, sondern auch der Wille. Denn es ist nicht der Wille des Menschen, böse zu sein, der ihn sündigen lässt. Besonders nicht innerhalb einer Vorstellungswelt, in der das moralische Leben und das Seelenheil vom Gut sein abhängt.
   Es sind gerade der Zwang, den die repressive Moral auf den Einzelnen ausübt, nur sein zu dürfen, wenn er gut ist und Gutes tut, und die Unfähigkeit, dieses zu leisten, die dazu führen, dass er sich resignierend aufspalten muss: Er muss fassadär bemüht sein, als gut zu gelten, nicht nur der allgemeinen Moral, sondern seinem eigenen Selbst gegenüber, und dahinter versuchen, ein Mindestmaß an Triebbefriedigung in der "Sündhaftigkeit" zu suchen.
   Hier beginnt die Selbstlüge, die Verdrängung mit ihren Abwehrmechanismen zu wirken, durch die alle Triebimpulse, die das Gut sein bedrohen, aus der Wahrnehmung heraus ins Unbewusste gedrängt werden, wo sie ein Schattendasein führen. An dieser Verdrängung erkrankt der Mensch und entfremdet sich. Er erlebt sich nicht, fühlt sich nicht oder nur verstellt, und je nachdem, wie die Spaltung gelingt, wähnt er sich als moralischen und somit existenz­würdigen Menschen, während seine Schattenseite, oft genug in Projektionen und externalisierten Anteilen, ihm als zu vernichtendes Feindbild gegenüber tritt. Er wird zum sündigen Moralisten.
   Dieser Zustand, den Freud als Neurose bezeichnet, stellt aber die eigentliche Sündhaftigkeit des Menschen dar: Ein Mensch, der nur die Wahl hat, entweder moralisch oder trieblos -und damit leblos- zu sein, wird oft genug einen Kompromiss versuchen in der Verlogenheit und Doppelmoral der Neurose.
   Will die Psychotherapie einen solchen Menschen heilen, kann sie dies eben nur tun, wenn sie die individuellen Interessen des Patienten über jene der gesellschaftlichen und theologischen Moral setzt. Damit gibt sie ihm zunächst den nötigen Freiraum, innerhalb dessen er sich in seiner unverstellten Realität wahrnehmen kann. Anders vermag die Psychoanalyse die Verdrängung und Spaltung nicht aufzuheben. Sie muss den Menschen vom Schuldgefühl befreien, damit er in die Lage versetzt wird, seine Schuld zu erkennen und anzuerkennen. Sie muss das Böse in ihn annehmen, damit das Gute aus ihm herauswächst.


 Dieser eher pragmatischen Ansatz professioneller Beratung, die Schuldfähigkeit erst dadurch zu erzeugen, indem bewusst ein amoralischer Raum verfügbar erschaffen wird, innerhalb dessen ein individueller Begriff von Schuldigkeit überhaupt erarbeitet werden kann, steht dem moralischen Rechtfertigungsdruck einer Berufsethik gegenüber, die jenseits pragmatischer, konstruktivistischer Ethik bestehen muss, und die die Interessen des Kollektivs oder der Religionen repräsentiert.
   Zum anderen gilt es aber auch, die professionelle Beratung zu schützen vor dem Vorwurf des Ersetzens repressiver Moral durch eine repressive Entsublimierung“, wie Habermas die latente Gefahr nannte, die aus den hedonistischen Interessen des Kapitalismus, und seiner "freien" Marktwirtschaft hervorgeht, sublimierte Trieb- Befriedigung durch käufliche Regressionsangebote zu zersetzen, durch Konsumartikel, oder gar menschlichen Beziehungen und kulturelle Leistungen zu Konsumwaren zurück zu entwickeln, nachdem sie mühsam einer humanistischen Ethik zugeführt und somit sublimiert waren.

   Beratung und Therapie  wird dann degradiert zu einem von vielen Produkten von „Wellness and Care“, die ihren emanzipatorischen oder gemeinschaftstiftenden Charakter gänzlich verliert, zugunsten eines hedonistisch- egozentrischen, individuellen Begriffs von Gesundheit und Glück. Die Dimension der Pflicht  -oder genauer Verpflichtung-  gegenüber der umgebenden Gruppe (Familie, Arbeitsplatz) und Gesellschaft, als unabwendbare Forderung sozialer Systeme, wäre gefährdet.

 

3.       Was heißt denn Schuld?

In der Psychoanalyse wir der Begriff des Schuldgefühls“ in vielfacher Bedeutung benutzt. Einmal bezeichnet er - wie schon gesagt - einen affektiven Zustand, der nach einer vom Subjekt ausgeübten Untat empfunden wird, also im Sinne von plagende Gewissensbissen, die gerechtfertigt sind, ein andermal beschreibt das Schuldgefühl nur diffuse Selbstvorwürfe, deren Begründungen nicht unbedingt nachvollziehbar sind, weil sie nicht an reale Verfehlungen logisch geknüpft werden können.
   Durch die psychoanalytische Untersuchung der Melancholie [9] kam Freud zu einer Theorie dieses neurotischen Schuldgefühls. Es manifestiere sich in Selbstanklagen, Selbstentwertung und Selbst- Bestrafung, bis hin zum Suizidwunsch. Hier fiel Freud die innere Spaltung des Selbstes in einen Ankläger und einen Angeklagten auf. Ganz besonders spannend war die Entdeckung, dass nicht nur eine unrechte Handlung ein Schuldgefühl erzeugt, sondern umgekehrt: „Ein unbewusstes Schuldgefühl kann die Untat selbst erzeugen. Wir können ein Schuldgefühl nachweisen, welches vor der Tat bestand, also nicht deren Folge, sondern deren Motiv ist, als ob es als Erleichterung empfunden würde, dies unbewusste Schuldgefühl an etwas reales und Aktuelles knüpfen zu können“. (Ges. Werke Bd. XIII, S. 282)
  Diese Definition meint unter Schuldgefühl ein ganzes System unbewusster Motivation, die zu Misserfolg, Selbstsabotage und delinquentem Verhalten führen kann, also zu Destruktion, die nach innen oder außen gerichtet werden kann. Einmal entstammt das Schuldgefühl also dem Gefühl Böses getan zu haben, ein andermal ist es ein Motiv für böse Handlungen. Schuld ist demnach einmal die Wirkung, ein andermal ist sie die Ursache für das Böse.
  Aber, was ist "das Böse"? Ursprünglich stammt das Wort „Böse“ vom englischen boast d.h. sich aufblähen oder prahlen, und dieses aus der indogermanischen Wurzel des bhou für aufblasen. Damit gemeint ist die Überheblichkeit, die den Menschen oft zur Eitelkeit verleitet.
  Die Daseinsanalyse sieht als eigentlichen Hintergrund für diese Selbstaufblähung die Angst vor der eigenen Bedeutungslosigkeit, die den Menschen befällt, wenn er sich seiner Endlichkeit und Kontingenz bewusst wird. Durch grenzüberschreitende, nach Geltung heischende Handlungen täuscht der Mensch sich eine Macht vor, die seine Angst und Ohnmacht überdeckt.

Alfred Adler prägte – in diesem Zusammenhang- den Begriff der „Überkompensation“ und verstand sie als Reaktionsbildung auf ein Minderwertigkeitsgefühl des Individuums, das aus einer „Organ-, oder sonstigen Minderwertigkeit“ stamme.
  Freud erweiterte den Begriff zu einer Folge von Furchtreaktion vor drohendem Liebesverlust im Verlauf der kindlichen Entwicklung, die im weiteren Leben internalisiert wird, zum Ergebnis der Spannung zwischen dem Ich und dem Überich. Demnach ist das Minderwertigkeitsgefühl in seiner Wirkung verwandt mit dem Schuldgefühl, nur dass dort das Ich mit dem Ideal- Ich, hier das Überich mit dem Es - Anspruch in Konflikt geraten sind:
  „Das Böse ist anfänglich dasjenige, wofür man mit Liebesverlust bedroht wird... Dabei macht es auch wenig aus, ob man das Böse bereits getan hat, oder es erst tun will. In beiden Fällen tritt die Gefahr erst ein, wenn die Autorität es entdeckt, und diese würde sich in beiden Fällen ähnlich benehmen.“[10]
    „Eine große Änderung tritt erst ein, wenn die Autorität durch die Aufrichtung eines Überichs verinnerlicht wird. Damit werden die Gewissensphänomene auf eine neue Stufe gehoben, im Grunde sollte man erst jetzt von Gewissen und Schuldgefühl sprechen.“ [11]
  Für die Psychoanalyse ist die Moral daher kein apriorisch begründeter Kodex des menschlichen Verhaltens, wie es die Theologie postuliert, sondern ein vom geschichtlichen und gesellschaftlichen Kollektiv geschaffenes Werk, das durch Reglementierung des Individuums unser gesamtes, soziales Zusammenleben, in Anlehnung an allgemeine Regeln, ermöglicht. Moralisches Handeln ist demnach das Ergebnis individueller und kollektiver Kontrolle von Triebimpulsen zugunsten der Anpassung an kollektive Interessen.
   Sublimation oder Sublimierung nannte er die dritte Alternative der Verarbeitung vom Triebimpulsen: durch ihre Umwandlung in kreative, künstlerische und intellektuelle Leistungen, die der Gemeinschaft dienen. Weitere Alternativen wären die unbedingte, uneingeschränkte Triebbefriedigung oder die gelungene Triebabwehr –als Verdrängung oder Verzichtsleistung des Ichs.
  Das Problem bei der neurotischen Abwehr ist aber gerade ihr Misslingen. Anstatt den Konflikt zwischen Trieb- und Moralansprüche zu lösen, verunstaltet die Abwehr die Befriedigung bis zur Unkenntlichkeit der Schizoidie und verstärkt den Abwehrkampf bis zu seiner Fixierung in psychische und psychosomatische Krankheiten.
    Das Schuldgefühl mag sich erst ergeben, wenn eine unmoralische Handlung begangen wird. Aber seltsamerweise entsteht es selbst dann, wenn die Handlung unterlassen wird, oder durch niemanden bezeugt werden kann und steigert sich immer weiter.
  Wie ist das zu erklären?
  Anfänglich entsteht beim Kind das Schuldgefühl gegenüber einem als Autorität dienenden Erwachsenen: Kann man in seiner Abwesenheit etwas Verbotenes tun, dann bleibt die Strafe aus.
    Aus dieser primitiven Form der Angstvermeidung angesichts des drohenden Liebesverlustes und der Bestrafung durch eine äußere Instanz wird später die Angst vor der Wahrnehmung von Schuld. Denn im Gegensatz zur äußeren Verheimlichung entsteht, nach der Überich – Bildung, das Schuldgefühl selbst dann, wenn es sich um gedachte Handlungen handelt. „Unzüchtige Gedanken“, kann man vor sich selbst, genauer: vor dem Überich, ebenso wenig verheimlichen, wie vor einem allgegenwärtigen, allwissenden Gott. Somit hat auch der Verzicht auf „böse“ Handlungen keine voll entlastende Wirkung mehr. Im Gegenteil: der Triebverzicht bestätigt und stärkt das Überich in seinen sittlichen Forderungen gegenüber dem Ich, damit wird der Triebanspruch immer mehr abgewehrt.
  „Jeder Triebverzicht wird nun eine dynamische Quelle des Gewissens, jeder neue Verzicht steigert dessen Strenge und Intoleranz...“ [12]
    Somit entsteht folgender Teufelskreis: „Das Gewissen ist die Folge des Triebverzichts; oder: Der (uns von außen auferlegte) Trieb- verzicht schafft das Gewissen, das dann weiteren Treibverzicht fordert.“ [12]
    Wir haben es dann mit einer Art "Perpetuum mobile" von Schuldempfinden zu tun, dass  - wenn es erst chronifiziert ist, weder mit einer irgendwie gearteten realen Schuld erklärt, noch mit einem Verzicht auf „böse“ Handlungen vermieden werden kann.

 

4.       Eugen Drewermanns Versuch einer komplementären Betrachtung

 

   Ganz besonders eklatant sind solche Krankheitsbilder, in denen dem Schuldgefühl keine Verfehlung zugeschrieben werden kann, außer vielleicht der bloßen Tatsache der eigenen Existenz als Kind, das für die Mutter oder beide Eltern unerwünscht zu sein scheint. Dies ist bekanntlich das Basisproblem der "Borderline-Störung", einer Grenzform zwischen Neurose und Psychose. Diese "Verfehlung"  kann klinisch lebensbedrohliche Symptome hervorrufen, wie in der Bulimie oder der schizoiden Depression. In solch einem Umfeld aufgewachsen zu sein bedeutet, sich schuldlos schuldig zu fühlen, da offenbar jedes existentielle Bedürfnis des Kindes eine ablehnende Reaktion hervorruft, die das Ungewolltsein fühlbar macht.
    Denn wie anders sollte das Schuldgefühl eines ungeliebten Kindes anders erklärt werden, wie seine tief sitzende Verzweiflung und die – oben beschriebene – Selbstzerfleischung?  Gerade hier vermag die Psychoanalyse  dem Kranken keine befriedigende, d.h. von der Schuld befreiende Erklärung zu geben, außer dem billigen Trost, seine Ablehnung sei nichts persönliches, sondern die Folge einer eventuellen Überlastung und Infantilität der Mutter.
   Hier reicht keine psychologische Erklärung, um die erlittenen Defizite und die jahrelange, verzweifelte Suche des Menschen nach Erlösung aus dem kafkaesken Schuldgefühl einer ungewollten Existenz zu mildern. Wie soll hier der professionelle Helfer eine schicksalhafte Verstrickung als unumgängliche Grausamkeit stehen lassen, als unverdientes „Pech“ eines Individuums?
    Das Erleben eines Paradoxons der „schuldfreien Schuld“ entspricht für Drewermann der Definition einer „Erbsünde“, die alle Menschen durch ihre bloße Geburt begangen haben sollen. Diese Erbsünde bestehe aber, im Buch der Genesis, durch den Versuch des Menschen, Autonomie zu erlangen. Diese führt zwangsläufig in die Entfremdung des Menschen von Gott durch Anzweifeln seiner guten Absichten und der "Aufblähung" der Kreatur gegen ihren Schöpfer. Entsprechend ist das Äquivalent dieser Erbsünde zu sehen in der Entfremdung des Kindes zu seinen Eltern im Zuge der Individuation. Abgrenzung bedeutet immer eine Verletzung der paradiesischen Symbiose zwischen Mutter und Kind, wie zwischen Gott und den Menschen. Sie ist der Preis der Autonomie schlechthin.
    Eine solche „Schuld“, wenn sie denn eine ist, scheint unvermeidbar für die Individuation. Dagegen ist die andere, unvermeidbare Schuld der eigenen Existenz beim abgelehnten Kind, wie etwa bei Kain, durch keine Auflehnung gegen die Autorität begründet.
    Die Verzweiflung bei der Entdeckung der eigenen Schuldlosigkeit ist beim Kain–Abel-Komplex mindestens genauso heftig, wie die Aussichtslosigkeit des Bemühens, sich ohne Schuldgefühl von der Mutter zu separieren, autonom zu werden. Weder die Symbiose, noch die Separation werden frei von Schuldgefühl durchlebt. Dabei vermag das betroffene, ungeliebte Individuum seinem Schuldgefühl keine erkennbare Schuld zuweisen.
  Ganz anders die Erleichterung des Neurotikers bei der Entdeckung der eigentlichen Schuld: Mögen es unsittliche Gedanken oder Handlungen sein; diese sind immerhin nachvollziehbare Verfehlungen. Während hier die Entdeckung der Schuld dem Kranken den Weg öffnet zu einer Klärung,  Wiedergutmachung, bleibt dem apriorisch abgelehnten Kind jede Korrekturmöglichkeit seines Selbstwertgefühls verwehrt- und zwar so lange die ihm gegebene Erklärung für sein lebenslanges Leid beschränkt bleibt auf eine immanente, phänomenologische Deutung.
    So tauscht das abgelehnte Kind die diffusen Schuldgefühle nur aus gegen ein deprimierendes Gefühl, vom Schicksal verraten worden zu sein. Der Leidende wird, mit Schopen­hauer, "das Ganze trei­ben des Men­schen­geschlechts" nur als ein "Spiel von Puppen" empfinden können und sich selbst erst recht als unnütz und wertlos erachten. Und genau hier setzt die Frage, ob denn  hinter dieser scheinbaren Gehässigkeit des eigenen Schicksals der große „Puppenspieler“ oder der bloße Zufall dem Leidenden eine solche Existenz beschert hat.


  Spätestens beim Drama des abgelehnten Kindes sind sowohl die Psychoanalyse, als auch die repressive Moral mit ihren Grenzen konfrontiert. Erstere kann keine metaphysischen Erklärungen abgeben, letztere kann, wie im Fall Hiob, keine immanente Ungerechtigkeit Gottes zulassen. Und so werden beide verstummen, vor dem tragischen Leid des Menschen, der „schuldlos schuldig“ geworden ist.
   In beiden Fällen, also, ob wir die Existenz einem Gott oder dem Zufall verdanken, wird die Frage nach der eigenen Schuld oder Unschuld in der Leiderfahrung uns mit immenser Ambivalenz und Angst konfrontieren: der Angst, es könnte keinen Gott geben und unsere Existenz sei absolut zufällig und somit jederzeit vernichtbar, dann wäre aber unser Schuldgefühl völlig sinnlos, weil unser Vergehen nur durch irdische Gerichte zu ahnden sei, sollte man es überhaupt entdecken. Oder es gibt einen Gott, den wir gegen uns aufgebracht haben und unsere Schuld wird gerächt werden, so dass unser Schuldgefühl in Vorahnung dieser Strafe die Angst vor ihr rechtfertigt.
   „Ohne die Angst und das Leid zu begreifen, die in allem Bösen stecken, wird man nie verstehen, was in Menschen vor sich geht, wenn sie sich selbst und anderen so viel an Leid zufügen“ [13]

In dieser Haltung des Verständnisses, die eine komplementäre, pastorale Psychotherapie dem an Schuldgefühl Leidenden entgegen bringen kann, erlebt der Mensch die Barmherzigkeit eines Gottes, dem es nicht um Abrechnung geht, sondern um Klärung und Wiedergutmachung der Schuld. Dies entspricht, innerpsychisch, der Umdeutung und Umgestaltung eines ursprünglich verfolgenden Überichs zu einer unterstützenden Kontrollinstanz, die dem Ich zur Orientierung dient, statt durch Verurteilung zur Selbstspaltung zwingt.
    Dieser dritte Weg, den sowohl C.G. Jung, Kierkegaard, als auch Drewermann u.a. Moraltheologen beschreiten, ist der Weg zu einer Religion der Erlösung durch Annahme des Menschen mit all seiner Schuld unter dem Bild eines barmherzigen Gottes, dessen eigentliches Ziel die Wiedergewinnung des Vertrauens und der Liebesbeziehung zum Menschen.
  Diese Beziehung wird nur durch eine Sünde belastet sein, die schwerwiegender ist, als jede reale Schuld, nämlich die Sünde des Misstrauens in der Verzweiflung. Verzweifelt ist der Mensch, der seine Existenz vor sich und der Außenwelt nicht weiter rechtfertigen kann, als durch Leistung, Sittlichkeit, Gehorsam oder Erfolg und Machtgewinn, eben durch „Aufblähung“ und Verstellung. Sein Tun und sein Existenzrecht sind eng miteinander verknüpft, als wäre er sein eigener Schöpfer. Ob das Schicksal ihn verschont oder vernichtet, bleibt die einzige Frage, die er dem Zufall überlässt, überlassen Muss. Alles andere muss er unter seine Kontrolle bringen.
  Eine solche Existenz, die keine Gnade kennt, kein anderes Gewolltsein, als das durch Menschen vergebene Existenzrecht, und keine Sicherheit, außer der materiellen, ist zur ewigen Suche nach Selbstbestätigung verdammt, als einzigem Schutz vor der verzweifelten Angst, jederzeit die existenzielle Bedeutungslosigkeit bewiesen  zu bekommen. Die Erkenntnis, von den eigenen Eltern nicht geliebt, ja nicht gewollt zu sein wird dann, im wörtlichen Sinne, vernichtend wirken. Die irrige Annahme des Kains – jedoch –, er sei von Gott abgelehnt und sein Bruder sei bevorzugt, ist das eigentliche tragische Missverständnis des abgelehnten Kindes.
  Genau dies trifft nicht zu. Denn das Versagen der Eltern auszudehnen und zu projizieren auf ein Versagen Gottes sei der selbstzerstörerische Fehler des Leidenden. Er verallgemeinert seine Ablehnung. Damit nimmt er sich die einzige wahre Grundlage seiner Existenzberechtigung, nämlich den jenseits jeder Schuld und vor jeder Gegenleistung vorhandene Wille des Schöpfers, sein Geschöpf zu lieben.
   Dies zu entdecken und durch Vermittlung des Gefühls von Annahme und wohlwollender Begleitung durch den professionellen Helfer ist die ursprüngliche Zielsetzung der Psychotherapie. Nur sie kann den moralfreien Raum in der Psychotherapie rechtfertigen, der symbolisch für die unbedingte, immerwährende Liebe Gottes steht. Genau dies müsste eine religiöse Moral verkünden, die eher auf der Basis einer „Frohen Botschaft“ aufbaut, dass Gott bereit war, sogar seinen Sohn zu opfern für die Erlösung des Menschen aus der schuldlosen Schuld der Erbsünde, statt auf eine repressiven Moral zu beharren, die auf Sanktionen nicht verzichten will und sich damit selbst ihrer Heilungskraft beraubt. Nur durch Vertrauen auf die Liebe Gottes erlangt Religion ihre wahre Bestimmung als Heilmittel, statt als Ursache und Quelle von Schuld und Schuldgefühl pervertiert zu werden. Und eben dadurch wir aus dem psychotherapeutischen Helfer ein Heiler.
    Die Angst eine solche Milde würde der Sünde Tür und Tor öffnen ist ungerechtfertigt. Denn indem der Leidende zur Liebe geführt wird, erlangt er den Zugang zu seiner Verpflichtung gegenüber dem Liebenden und wird bereit sein, diese Liebe durch Loyalität zu erhalten, oder, wenn er gesündigt hat, sie –aus dem sicheren Gefühl des Vertrauens auf Vergebung- durch Reue wieder zu erlangen. Die Hinwendung zum Guten ist dann eine persönliche Motivation des Menschen, der seine eigene Moral in einer Liebesbeziehung zum Schöpfer gefunden hat.
    Wer sich aber nicht auf ein religiöses System zu beziehen vermag, weil ihm der Glaube fehlt, dem sei das Zitat Martin Bubers gewidmet: „Aber auch wer den Namen Gottes verabscheut und gottlos zu sein wähnt, wenn der mit seinem ganzen hingegebenen Wesen das Du seines Lebens anspricht, das von keinem anderen eingeschränkt zu werden vermag, spricht er Gott an.“



[1] Siegmund Freud: ges. Werke, Bd. XIV, Seite 491
[2] Drewermann: Psychoanalyse und Moraltheologie, Bd 1, „Angst und Schuld“, Seite 80
[3] Ebenda
[4] Siegmund Freud: ges. Werke, Bd. XIV, Seite 480
[5] Ebenda, Seite 491
[6] Drewermann: Psychoanalyse und Moraltheologie, Bd 1, „Angst und Schuld“, Seite 89
[7] Paulus: Brief  an die Römer 7,19-20


[8] Paulus: Brie an Timotheus 8,1-5
[9] Siegmund Freud: 1917: „Trauer und Melancholie“
[10] Siegmund Freud: ges. Werke, Bd. XIV, Seite 484
[11] Ebenda
[12] Siegmund Freud: ges. Werke, Bd. XIV, Seite 488
[13] Drewermann: Psychoanalyse und Moraltheologie, Bd 1, „Angst und Schuld“, Seite 89, Seite 117